Hyperventilation

Bei Angst, Aufregung, Wut und Stress ist die Atmung oft entweder rasch und flach mit eingestreuten Seufzerzügen oder sie wechselt von unruhiger Mittellage zur Hyperventilation (schnell und tief). Plötzliches Erschrecken kann zu einem vorübergehenden Atemstillstand führen, gefolgt von einer intensivierten Atmung.

Hyperventilationssyndrom

Das Hyperventilationssyndrom wird im amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema als eine Unterform der Panikstörung angesehen, ähnlich wie die Herzphobie, nach dem ICD-10, dem internationalen Diagnoseschema der Weltgesundheitsorganisation, stellt das Hyperventilationssyndrom eine somatoforme autonome Funktionsstörung (respiratorisches System) dar.

Das Hyperventilationssyndrom tritt vor allem bei jüngeren Menschen auf, bevorzugt im zweiten und dritten Lebensjahrzehnt. Die Symptomatik kommt bei Frauen dreimal so häufig vor wie bei Männern. 60% der Angstpatienten hyperventilieren bei Angst. Menschen mit einem chronischen Hyperventilationssyndrom weisen in weniger als 1% der Fälle eine Zwerchfellatmung auf.

Art der Atmung

Die Art der Atmung (fast ausschließlich Brustatmung, geringe oder fehlende Bauchatmung) kann bei ansonsten unklaren Symptomen den Verdacht auf ein Hyperventilationssyndrom untermauern. Zur Überprüfung dient ein Hyperventilationstest für drei Minuten, wobei die Betroffenen erkennen lernen, wie ihre Symptome entstehen.
Hyperventilation ist in über 95% der Fälle psychisch bedingt. Wenn keine Auslösung durch psychische Erregung (Angst, Ärger, Wut) erkennbar ist, sollten mögliche organische Ursachen ausgeschlossen werden, z.B. Kaliummangel oder -überschuss, Magnesiummangel, Kalziummangel, metabolische Azidose oder Alkalose.

Menschen mit Ängsten, chronischer Stressbelastung und Verspannung atmen flach und unergiebig aus dem oberen Brustkorb heraus und nutzen damit nur ein Drittel bis zur Hälfte der Lungenkapazität. Bei mehr Sauerstoffbedarf atmen sie noch stärker mit dem Brustkorb statt intensiver mit dem Zwerchfell. Durch die schnelle Atmung kommt es zum belastenden Herzrasen. Den Betroffenen fällt die Hyperventilation oft gar nicht auf, so dass sie diese auch nicht als die Ursache ihres Herzrasens erkennen können.

Die generelle Einatmung durch den Mund, wie sie insbesondere bei Menschen mit Allergien, Asthma oder Atemwegserkrankungen vorkommt, begünstigt bei Angst, Aufregung oder Stress ohne gleichzeitige Bewegung eine Hyperventilation. Oft wird die Hyperventilation nicht durch Angst, sondern durch Wut oder Aggression ausgelöst.
Hyperventilation wird einerseits häufig durch chronische Muskelverspannungen im Brustkorb begünstigt, führt andererseits aber auch zu Brustschmerzen, wenn bei fast vollständig gefüllter Lunge hyperventiliert wird (so genannte. aufgesetzte Hyperventilation). Hyperventilation führt zur Überdehnung der Muskeln zwischen den Rippen, was Schmerzen bzw. Ziehen in der Brust hervorruft. Weiteres, noch tieferes Einatmen führt zu verstärktem Schmerz bzw. Ziehen.

Die Betroffenen sollten die körperlichen Vorgänge bei einer Hyperventilation genau verstehen, um die so häufige Beunruhigung durch die dabei auftretenden Symptome zu vermindern. Deshalb wird im Folgenden eine ausführliche Erklärung geboten.

Unter dem Hyperventilationssyndrom versteht man eine über das physiologische Bedürfnis hinausgehende Beschleunigung und Vertiefung der Atmung, wodurch im Blut der Sauerstoffanteil ansteigt und der Kohlendioxidgehalt stark abfällt. Das Atemminutenvolumen liegt durchschnittlich 95%, im Anfall sogar bis zu 500% über dem Soll.

Hyperventilation bedeutet, dass man schneller und/oder tiefer atmet, als es für die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und den Abbau von Kohlendioxid nötig ist. Es wird zuviel Sauerstoff eingeatmet und zuviel Kohlendioxid ausgeatmet. Ohne körperliche Bewegung sinkt der Kohlendioxidanteil im Blut besonders stark ab, weil nicht genügend Kohlendioxid in den Muskeln gebildet wird.

Fehlregulation des Gasstoffwechsels

Hyperventilation bewirkt eine Fehlregulation des Gasstoffwechsels im Bereich der Lungenbläschen und infolgedessen eine Verminderung des Kohlendioxidpartialdrucks, wodurch es zu einer Verschiebung des Säure-Basen-Gleichgewichts kommt. Kohlendioxid ist zwar ein Abfallprodukt, muss jedoch in einem bestimmten Verhältnis zum Sauerstoff im Körper vorhanden sein. Durch den Kohlendioxidmangel steigt der pH-Wert (Säure-Basen-Verhältnis im Blut): das Blut wird basisch. Das massive Absinken des Säuregehalts im Blut wird „respiratorische Alkalose“ genannt. Bei starker Hyperventilation kann der Kohlendioxidanteil im Blut in weniger als 30 Sekunden um 50% abnehmen. Innerhalb einer Minute treten Symptome auf.

Hyperventilation bewirkt über die Kohlendioxidreduktion eine Erniedrigung der Kalziumionen-Konzentration im Blut, d.h. der Anteil von ionisiertem Kalzium im Blut sinkt ab, wodurch die Nervenzellen erregbarer werden und leichter eine Alarmreaktion (Bereitstellungsreaktion) ausgelöst werden kann. Wenn das Kohlendioxid, das von Eiweißkörperchen im Blut transportiert wird, durch die Hyperventilation (insbesondere bei fehlender körperlicher Bewegung) im Blut stark abnimmt, lagert sich normalerweise neben anderen Stoffen das Erdalkalimetall Kalzium enger an das Eiweiß.

Kalzium ist ein wichtiger Bestandteil des Blutes und wird neben der Stärkung der Knochen u.a. auch zur Funktionsfähigkeit der Nervenzellen und der Muskel benötigt. Kalzium ist im Blut teilweise an Eiweiß gebunden, teilweise schwimmt es als freier Bestandteil ohne Verbindung zu anderen Blutbestandteilen im Blut herum. Das freie Kalzium im Blut wird um so weniger, je mehr Stellen am Bluteiweiß wegen des stark abgeatmeten Kohlendioxids frei werden.

Das freie Kalzium im Blut ist u.a. dafür verantwortlich, dass die Muskeln geschmeidig arbeiten können. Wenn weniger freies Kalzium im Blut ist, werden die Nerven erregbarer, und die Muskeln beginnen sich zu verkrampfen. Gewöhnlich merkt man dies zuerst an einem Kribbeln in den Lippen bzw. im Bereich des Mundes, bald darauf ziehen sich die Lippen zusammen („Kussmundstellung“). Dann kribbelt es in Händen und Füßen, und die Finger ziehen sich zusammen, so dass die Hände wie Pfoten aussehen („Pfötchenstellung“) und im Extremfall gar nicht mehr bewegt werden können. Neben Kribbeln, Pelzigkeit und Taubheitsgefühlen können in Brust und Hals auch Druck- oder Engegefühle entstehen.

Durch die engere Bindung der Kalziumionen an das Eiweiß im Blut verengen sich auch die Blutgefäße im Gehirn, was die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn beeinträchtigt und zu Schwindel, Konzentrationsstörungen und Schwarzwerden vor den Augen führt und die bestehende Angst und Unruhe verstärkt. Gleichzeitig wird das sympathische Nervensystem aktiviert, so dass eine Notfallsreaktion immer wahrscheinlicher wird, die dann als Panikattacke erlebt wird.

Hyperventilation führt über den Kalziumabfall zur Verkrampfung der Bronchien und der Stimmritzen. Wegen der zunehmenden Angst, keine Luft zu bekommen, und wegen des Drucks im Brustkorb atmen die Betroffenen noch tiefer und heftiger. Da weiterhin keine Bewegung erfolgt, wird der Kohlendioxidmangel im Blut noch größer.

Nicht einmal im Extremfall führt hyperventilationsbedingte Sauerstoffnot zur Ohnmacht, wie eine niederländische Studie an Versuchspersonen ergab, die mindestens 90 Minuten lang so schnell und tief atmeten, als sie konnten. Es ist jedoch eine Hyperventilationstetanie möglich, d.h. ein krampfartiger Anfall, der für Unerfahrene wie ein epileptischer Anfall ausschaut, so dass Beobachter unnötigerweise den Notarzt rufen.

Der Arzt verabreicht oft eine Kalziumspritze zur Krampflösung. Die künstliche Zufuhr von Kalzium löst rasch den Muskelkrampf (Tetanie). Eigentlich handelt es sich dabei um einen typischen Plazeboeffekt, weil bei einer Hyperventilation nur ein relativer und kein absoluter Kalziummangel gegeben ist. Die Kalziuminjektion bewirkt ein subjektives Wärmegefühl in Händen und Füßen, was dem Gefühl des Absterbens der Extremitäten entgegenwirkt.
Bei starken Tetanien wird oft auch eine Beruhigungsspritze (Valium®, Rivotril®) verabreicht, was meist unnötig ist, weil deren Wirkung weit über den Hyperventilationszeitraum hinaus anhält, so dass man sich noch Stunden später benommen fühlt.

Richtig Atmen

Richtige, langsame Atmung, gleichzeitige Bewegung während der Atmung bzw. eine Papiertüte, ein Taschentuch oder die hohle Handinnenfläche vor dem Mund, um das ausgeatmete Kohlendioxid wieder einzuatmen, sind gut geeignet, den Kohlendioxidgehalt im Blut rasch zu steigern und die Muskeln geschmeidiger zu machen.
Eine Hyperventilation bewirkt folgende Symptome:

anhaltendes Gefühl, nicht richtig durchatmen zu können, verbunden mit dem Zwang, ein paar Mal tief durchatmen zu müssen, Atemnot und Druck auf der Brust, Herzklopfen und Herzrasen, Herzschmerzen, Brustschmerzen (durch Überspannung der Muskeln zwischen den Rippen), Engegefühl über der Brust (Gürtel- und Reifengefühl), Gefühllosigkeit, Kribbeln („Ameisenlaufen“) und Zittern an Händen (besonders in den Fingerspitzen), Füßen und Beinen, Kribbeln um die Mundregion, taube Lippen, Globusgefühl (Zusammenschnüren der Kehle), Verkrampfung der Hände („Pfötchenstellung“), kalte Hände und Füße, Zittern, Muskelschmerzen, Druck im Kopf und Oberbauch, Bauchbeschwerden (durch das Luftschlucken), Übelkeit, Schwindel, Benommenheit, Unwirklichkeitsgefühle, Pupillenerweiterung, Sehstörungen, Gefühl, wie auf Wolken zu gehen, Angst, ohnmächtig zu werden, und Todesangst (wegen der Erstickungsgefühle).

Im Extremfall einer Hyperventilationstetanie führt der Sauerstoffmangel zu Ohnmacht und Krampfzuständen. In der Ohnmacht normalisiert sich die Blutzusammensetzung schnell wieder, weil man richtig atmet, so dass man rasch und problemlos von alleine zu sich kommt. Hyperventilation führt auch zu Veränderungen der Wahrnehmung. Sehen und Hören sind beeinträchtigt, das Selbsterleben bekommt eine andere, angstmachende Dimension, was die Paniksymptome verstärkt, insbesondere die Angst vor dem Verrücktwerden. Bei starker Hyperventilation treten binnen einer Minute Symptome auf. Sie sind zwar unangenehm, bewirken aber keine bleibenden Schäden.

Eine zu rasche und zu tiefe Atmung im Sinne einer Hyperventilation führt paradoxerweise zu einem Sauerstoffmangel, verbunden mit dem Angstgefühl zu ersticken, so dass noch schneller und tiefer geatmet wird (was die Symptomatik verschärft).

Trotz des Überatmens besteht ein Gefühl von Luftnot, das sich bis zur Erstickungsangst steigern kann. Dies hängt damit zusammen, dass die normale Atmung vor allem durch einen Kohlendioxidüberschuss und in geringerem Ausmaß auch durch einen Sauerstoffmangel angeregt wird. Bei einer Hyperventilation ist gerade das Umgekehrte der Fall, so dass das Atemzentrum die Atmungsvorgänge vermindert.

Menschen, die chronisch hyperventilieren, haben oft keine eindeutig abgrenzbaren akuten Anfälle, nur relativ unspezifische und vage Beschwerden, selten Atemstörungen oder Tetaniezeichen. Als Leitsymptome des chronisches Hyperventilationssyndroms gelten: Schwindel, Brustschmerzen, kalte Hände und Füße sowie verschiedene psychische Beschwerden (Müdigkeit, Schlappheit, Schläfrigkeit, Wetterfühligkeit, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Reizbarkeit, Angespanntheit, ängstliche oder depressive Symptomatik).

Panikattacken lassen sich nach neueren Untersuchungen nicht generell durch die direkte biologische Wirkung der Hyperventilation erklären, wenngleich im Einzelfall Hyperventilation oft zu Panikattacken führen kann. Panikattacken dürfen nicht einfach mit dem Hyperventilationssyndrom gleichgesetzt werden. Viele Panikpatienten hyperventilieren überhaupt nicht. Provokationstests bewirkten bei Panikpatienten keinen erniedrigten Kohlendioxidpartialdruck des Blutes, der bei chronischer Hyperventilation zu erwarten gewesen wäre.