Historisch handelt es sich bei der generalisierten Angststörung um die Restkategorie der ehemaligen Diagnose der Angstneurose, die sich nach der Abtrennung der Panikstörung ergibt. Die psychoanalytisch orientierte Konzeption der Angstneurose soll in der neueren Diagnostik durch eine theorienfreie Beschreibung ersetzt werden. Die generalisierte Angststörung soll durch die neuen Diagnoseschemata präziser definiert werden als die recht vage und umfassende Charakterisierung der Angstneurose, sodass eine bessere empirische Überprüfbarkeit und Verwertbarkeit gegeben ist. Es sind noch Studien nötig, um das Gesamtkonzept empirisch abzusichern. Die generalisierte Angststörung wurde im Vergleich zu anderen Angststörungen noch wenig untersucht.
Symptomatik der generalisierten Angststörung
Eine generalisierte Angststörung ist nach dem ICD-10 eine generalisierte und anhaltende Angst, die nicht auf bestimmte Situationen in der Umgebung beschränkt ist, sondern frei flottierend auftritt. „Generalisiert“ drückt aus, dass diese Form der Angststörung durch übertriebene, unrealistische, andauernde Besorgnisse, Ängste und Befürchtungen in Bezug auf vielfältige Aspekte des Lebens charakterisiert ist.
Das Hauptmerkmal der generalisierten Angststörung ist die unrealistische oder übertriebene Angst und Besorgnis bezüglich allgemeiner oder besonderer Lebensumstände über einen längeren Zeitraum (mindestens 6 Monate), ohne dass die Betroffenen ihre Ängste kontrollieren können, obwohl sie diese als unbegründet und belastend erkennen. Es besteht ein ständig erhöhtes Angstniveau, das in der Regel keine Panikattacken bewirkt, jedoch mit motorischer Anspannung und vegetativen Symptomen verbunden ist. Das amerikanische psychiatrische Diagnoseschema DSM-IV erstellt folgende diagnostische Kriterien für eine generalisierte Angststörung:
A Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätigkeiten (wie etwa Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage auftreten.
B Die Person hat Schwierigkeiten, die Sorgen zu kontrollieren.
C Die Angst und Sorge sind mit mindestens drei der folgenden 6 Symptome verbunden (wobei zumindest einige der Symptome in den vergangenen 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage vorlagen).
- Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“,
- leichte Ermüdbarkeit,
- Konzentrationsstörungen oder Leere im Kopf,
- Reizbarkeit,
- Muskelspannung,
- Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten oder unruhiger, nicht erholsamer Schlaf).
E Die Angst, Sorge oder körperlichen Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen.
Als Kern einer empirisch-beschreibend definierten generalisierten Angststörung wird im amerikanischen Diagnoseschema die exzessive Angst und Sorge über mehrere Lebensumstände (im Sinne einer furchtsamen Erwartung) angesehen, die nicht unter Kontrolle gebracht werden kann, sodass es zu einigen der sechs empirisch am häufigsten gefundenen körperlichen Begleitsymptome sowie zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität kommt.
In Anlehnung an das internationale Diagnoseschema ICD-10 sind bei einer generalisierten Angststörung (F41.1) folgende Symptome typisch:
Befürchtungen
- Sorge über zukünftiges Unglück und entsprechende Vorahnungen: Angehörige könnten demnächst erkranken oder verunglücken, unbegründete Geldsorgen, übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf.
- Nervosität: ständige geistige Übererregbarkeit, erhöhte Aufmerksamkeit und Gereiztheit angesichts der unkontrollierbaren Befürchtungen, Schreckhaftigkeit.
- Konzentrationsschwierigkeiten oder Vergesslichkeit.
Motorische Spannung
- körperliche Unruhe,
- Spannungskopfschmerz,
- Zittern: sichtbarer Ausdruck der Muskelanspannung, unwillkürliches Zucken, „wackelig auf den Beinen“ sein, Unfähigkeit, sich zu entspannen: ständige muskuläre Anspannung, verbunden mit rascher Ermüdbarkeit und Erschöpfung.
Vegetative Übererregbarkeit
- Schwindel oder Benommenheit,
- Atemnot, Erstickungsgefühle oder Atembeschleunigung,
- Herzrasen,
- Schwitzen,
- Hitzewallungen oder Frösteln,
- feucht-kalte Hände,
- Magen-Darm-Beschwerden: Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall,
- häufiges Wasserlassen (Harndrang),
- Mundtrockenheit,
- Schluckbeschwerden oder Gefühl, einen „Knödel im Hals“ zu haben, Ein- oder Durchschlafstörungen.
- Die primären Symptome von Angst treten an den meisten Tagen auf, mindestens mehrere Wochen lang, meistens sogar mehrere Monate.
Die Störung findet sich häufiger bei Frauen, oft in Zusammenhang mit langdauernden Belastungen durch äußere Umstände. Der Verlauf ist unterschiedlich, neigt aber zu Schwankungen und Chronifizierung.
Bei Kindern stehen oft das Bedürfnis nach Beruhigung und wiederholte somatische Beschwerden im Vordergrund.
Nach den Forschungskriterien des ICD-10 bestehen folgende Merkmale:
A Ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme.
B Mindestens vier Symptome der unten angegebenen Liste, davon eins von den Symptomen 1. bis 4. müssen vorliegen:
Vegetative Symptome
- Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
- Schweißausbrüche
- fein- oder grobschlägiger Tremor
- Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose)
Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen: Atembeschwerden
- Beklemmungsgefühl
- Thoraxschmerzen oder -missempfindungen
- Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z.B. Unruhegefühl im Magen)
Psychische Symptome: - Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
- Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder „nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
- Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
- Angst zu strebenAllgemeine Symptome:
- Hitzewallungen oder Kälteschauer
- Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle
Symptome der Anspannung
- Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen
- Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zu entspannen
- Gefühle von Aufgedreht-Sein, Nervosität und psychischer Anspannung
- Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden
Andere unspezifische Symptome
- Übertriebene Reaktionen auf kleine Überraschungen oder Erschreckt-Werden
- Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühle im Kopf wegen Sorgen oder Angst
- Anhaltende Reizbarkeit
- Einschlafstörung wegen der Besorgnis
C Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine Panikstörung (F41.0), eine phobische Störung (F40), eine Zwangsstörung (F42) oder eine hypochondrische Störung (F45.2).
D Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung ist nicht zurückzuführen auf eine organische Krankheit wie eine Hyperthyreose, eine organische psychische Störung (F0) oder auf eine durch psychotrope Substanzen bedingte Störung (F1), z.B. auf einen exzessiven Genuss von anphetaminähnlichen Substanzen oder auf einen Benzodiazepinentzug.
Die Ängste werden meistens nicht durch bestimmte äußere Reize oder Situationen ausgelöst, weshalb das Vermeidungsverhalten keine so große Rolle spielt wie bei Phobien, auch nicht durch bestimmte Körperwahrnehmungen wie bei Panikattacken. Äußere Reize können jedoch die innere Bereitschaft zu Sorgen aktivieren. Latent vorhandene Ängste vor Erkrankungen in der Familie können durch Informationen über momentan gehäuft auftretende Fälle einer bestimmten Krankheit sofort manifest werden.
Das Lesen von medizinischen Informationen (z.B. das Lesen der Nebenwirkungen von Medikamenten auf dem Beipackzettel oder die Lektüre von medizinischen Informationen in diesem Buch) kann ebenfalls Ängste auslösen („Es macht mir Angst, was ich noch alles bekommen kann, wenn ich das lese“). Das bewusste Nicht-Lesen krankheitsbezogener Literatur stellt ein Vermeidungsverhalten dar. Auf Dauer erleben die Betroffenen ihr ständiges Sorgen als sehr belastend, können es aber dennoch nicht kontrollieren, verglichen mit nichtängstlichen Personen, die sich (allerdings weniger lange) oft über dieselben Angelegenheiten sorgen.
Man kann das ständige Sorgen als „Problemlöseprozess ohne Problemlösung“ verstehen. Die Betroffenen spielen gedanklich alle möglichen Katastrophen durch, ohne jemals zu Lösungen zu gelangen, wie diese Katastrophen vermieden werden könnten. Die häufigsten Sorgen beziehen sich auf das Wohlbefinden der Familie, die Arbeit, die finanzielle Lage oder die Gesundheit. Das Grübeln stellt nicht nur ein Problem dar, sondern auch einen Lösungsversuch. Sich zu sorgen, scheint noch größeres Leid verhindern zu können („Ich muss mich ständig sorgen, sonst passiert noch etwas Schlimmes“). Wenn sich vorübergehend Erleichterung einstellt, weil man sich lange genug mit einer Befürchtung beschäftigt hat und nun gleichsam vor einer realen Gefahr bewahrt bleibt, wird das Grübeln letztlich verstärkt. Menschen mit generalisierter Angststörung und gesunde Personen unterscheiden sich nicht bezüglich der Inhalte, über die sie sich sorgen, wohl aber hinsichtlich der Zeit, die sie mit Sorgen zubringen. Während sich laut Untersuchungen die Patienten 60% des Tages sorgen, trifft dies bei gesunden Kontrollgruppen nur in 18% der Fälle zu. Lediglich um den täglichen Kleinkram sorgen sich Angstpatienten mehr als andere Menschen.