Agoraphobie – Definition,Ursachen & Behandlung

Definition

Unter Agoraphobie (Agora, griech.: = Marktplatz, öffentliche Versammlungsstätte) verstand man lange ausschließlich die Angst vor Menschenansammlungen und großen Plätzen (daher die immer noch gängige deutsche Übersetzung „Platzangst“. Doch neue Erkenntnisse haben zu einer erweiterten Definition der Agoraphobie geführt:

Heute bezeichnet man damit die Angst, in einer Situation (die nicht wirklich gefährlich ist!) bedrohliche oder peinliche Körpersymptome (siehe unten) zu bekommen und ohne Hilfe zu sein, nicht weg zu können, die Kontrolle über sich zu verlieren. Die Situationen, in denen einmal solche Angst erlebt wurde, werden fortan gemieden oder nur unter gleicher Angst wieder durchgestanden. Auch auf Orte, an denen er noch nicht war, überträgt der Betroffene die Befürchtungen (Angst vor der Angst) und meidet sie. Die Vermeidungen schränken Alltag und bisherigen Lebensstil ein.
Die agoraphobische Erfahrung ist vor allem mit der Vorstellung bzw. (Erwartungs-)Angst verbunden:

  • einen Herzanfall zu erleiden, zu sterben
  • Ohnmacht zu erleiden, hinzufallen, hilflos ausgeliefert zu sein
  • aufzufallen, sich zu blamieren (schreien), sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben
  • verrückt zu werden.

Was häufig vorkommt: Aus der anfänglichen Kombination fällt die Panik irgendwann fast oder ganz weg, die Attacken aus heiterem Himmel werden immer seltener – es bleibt eine Agoraphobie übrig, in der die Angst vor der Angst und das Vermeiden dominieren.

Wegen der Vielfalt der Angstsituationen übersetzt man Agoraphobie heute oft treffender mit dem Begriff „multiple Situationsangst“. Die Gegebenheiten, die für Betroffene eine potentielle Gefahr darstellen, und die sie deswegen vermeiden, sind ganz unterschiedlich: Kaufhäuser, Supermärkte, Bus-, U-Bahn-, Zugfahren, Autofahren, Fliegen, im Stau stehen, Tunnel, Brücken, Liftfahren, Wartezimmer, über weite Flächen gehen, Spaziergänge im Wald, große Höhen, die Straße überqueren, aber auch Menschenmassen. Fast alle Agoraphobiker fürchten sich davor, in einem Geschäft Schlange zu stehen, empfinden oft ein Gefühl des Festgehaltenseins (z.B. beim Frisör). Gefürchtet sind bei Agoraphobikern enge, geschlossene Räume (nicht zu verwechseln mit der isolierten spezifischen Angst vor engen Räumen = Klaustrophobie).

Im Restaurant oder Kino halten sie es allenfalls aus, wenn sie einen Platz nahe am Ausgang haben. Der Agoraphobiker sondiert typischerweise in jedem neuen Gebäude die Fluchtmöglichkeiten und -wege. Angstfördernd sind deshalb weite Entfernungen vom Ausgang bzw. von sicheren Gefilden: hochgelegene Stockwerke, alles Unterirdische. Je weiter und höher die Räumlichkeiten und je weiter weg von zu Hause, desto ausgeprägter ist die Angst. Reisen bereiten daher vielen große Schwierigkeiten. Je länger die Zeit vor einem Anlass, desto mehr Erwartungsangst bauen Agoraphobiker auf, sterben schon vorher tausend Tode.

In der schweren Ausprägung sind die Betroffenen nicht mehr in der Lage, allein das Haus zu verlassen, weil ihnen „alles da draußen“ Angst macht. Nicht wenige entwickeln eine generelle Angst vor dem Alleinsein und brauchen ständig Menschen um sich.

Etwa zwei Drittel der Agoraphobiker sind Frauen. Andere Angstformen kommen dagegen bei Männern und Frauen gleich häufig vor. Agoraphobie entsteht meistens im Erwachsenenalter, zwischen 18 und 35 Jahren. Bei Kindern kommt sie nicht vor.

Die Körpersymptome, die in der Angstsituation auftreten, ähneln denen einer Panikattacke:

  • Herzklopfen
  • Beklemmungsgefühl
  • Atemnot
  • Zittern
  • Benommenheit
  • Schwindel
  • Sehstörungen
  • Schwitzen
  • Ohnmachtsgefühl usw.

Diese Empfindungen münden oft in der Angst zu sterben. Bei den ersten Attacken werden Ärzte konsultiert, weil der Betroffene glaubt, eine organische Krankheit zu haben. Allermeistens ist er aber kerngesund.

Die Angst vor der Angst

Die schreckliche Erfahrung der Anfälle führt zur Angst vor der Angst: Nie wieder will man das erleben! Folglich wird. z.B. das Kaufhof gemieden. Statt dessen wird im nähergelegenen Supermarkt eingekauft. Doch aus Angst vor dem Angstanfall kommt irgendwann nur noch der Kramerladen um die Ecke in Frage. So weitet sich durch Vermeidung die Agoraphobie schrittweise auf immer mehr Orte aus, der Aktionsradius wird kleiner, jeder „Misserfolg“ verstärkt die Agoraphobie – ein Teufelskreis. Zum Schluss kann schon die reine Vorstellung der angstauslösenden Situation zu den gefürchteten Symptomen führen: Eine Betroffene: „Schon beim Frühstück, wenn ich nur daran denke, jetzt zur Arbeit zu müssen, kriecht die Angst in mir hoch und mir wird schwindlig.“

Vermeidung oder Flucht beenden zwar die Angst, aber der Betroffene hindert sich zu erfahren, dass die Situation in Wirklichkeit nicht gefährlich ist. Vermeidung verstärkt die Angst und führt letztlich nur zu ernsthafter Lebensbehinderung.

Die drei Ebenen der Angst

Angst hat drei Ebenen: Sie ist gleichzeitig eine physiologische, gedankliche und verhaltensbezogene Erfahrung. Die physiologischen Körpersymptome Herzklopfen, schnelle Atmung, Schweißbildung usw. sind normale Folgen einer erhöhten Adrenalinausschüttung und ungefährlich. Aber da sie vom vegetativen Nervensystem ausgelöst werden, sind sie nur schwer zu kontrollieren.

Gedanken, Vorstellungen und Bewertungen (Kognitionen genannt) sind die eigentlichen Betreiber der Angst. Der Betroffene stellt sich als Folge der unerklärlichen Körperreaktionen gleich Katastrophales vor („Ich könnte ohnmächtig werden“ / „Das ist ein Herzinfarkt“), argwöhnt immer das Schlimmste („Keiner hilft mir“). Diese negative Bewertung treibt die Angst in die Höhe, und in der Folge schüttet der Organismus noch mehr Adrenalin aus. Die Körperanzeichen werden stärker. Die motorische oder Verhaltensebene schließlich führt entweder zu einem Handlungsdrang (unruhiges Umherlaufen oder Flucht) oder sie lähmt („Ich kann nicht mehr gehen“). Das Angstgeschehen ist mit seinen drei Ebenen also eine (Über)Reaktion der ganzen Person, eine „Leib-Seele-Einheit“. Erwartungsangst ist dabei heftiger als die Angst in der realen Situation und führt deshalb zur Vermeidung.

Der endlose Teufelskreis

Im Prinzip kann die Angst auf jeder der drei Ebenen beginnen und sich umgehend auf die anderen ausweiten – der Teufelskreis der Angst entsteht. Z.B. ein schnell schlagendes Herz (beim Treppensteigen) erinnert an einen früheren Angstanfall, wird als negativ und als Bedrohung bewertet; das wiederum löst über das vegetative Nervensystem physiologische Veränderungen aus. Die jetzt verstärkten Körperanzeigen werden noch deutlicher wahrgenommen und verursachen noch mehr Angst. Der Kreislauf steigert sich oft bis zur Panik.

Der Teufelskreis bei Angstanfällen

Um ihre Angst vor der Angst im Griff zu behalten, entwickeln Menschen mit einer Agoraphobie ein raffiniertes System zur Alltagsbewältigung. An erster Stelle steht hier die Begleitung durch Partner oder Freunde. Mit allen möglichen Ausreden werden Bekannte immer in die eigene Wohnung geladen. Sitzplätze in Türnähe vermitteln die Sicherheit, schnell fliehen zu können, wenn die Angst zu groß wird. Andere schwören auf Medikamente – ob Kreislauftropfen,, Baldrian oder stärkere Arzneimittel, die sie oft gar nicht benutzen; Hauptsache, die Medizin ist immer griffbereit. Oft halten Patienten das Arzneifläschchen ständig festumklammert in der Manteltasche. Viele Betroffene kauen ständig Kaugummi oder lutschen Bonbons, um trockenem Mund und Schluckbeschwerden vorzubeugen.

Ein beliebtes Hilfsmittel ist die „krampfhafte“ Konzentration auf andere Dinge: Lesen in der U-Bahn, sich was Schönes ausmalen, intensive Betrachtung des Gegenübers im Bus usw. Als sehr hilfreich empfinden viele Agoraphobiker vertraute Gegenstände oder Haustiere. Manche nehmen stets ein Fahrrad oder einen Einkaufswagen mit, um sich daran festzuhalten, oder tragen auch bei Sonnenschein einen Regenschirm mit sich. Auch das Kind an der Hand oder der Hund an der Leine mindern die Angst vor der Angst.

Eine andere Form von Vermeiden ist der wiederholte Gang zum Arzt. Sein beruhigendes Urteil, dass keine organische Bedrohung vorliegt, hält eine Weile vor.

Agoraphobiker beobachten und schonen sich gern

Agoraphobiker, wie auch Panikpatienten, entwickeln eine übertriebene Selbstbeobachtung, messen ständig Puls oder Blutdruck, lesen andauernd in medizinischen oder psychologischen Büchern nach. Klopft mein Herz gerade schneller? War das eben nicht ein Schwindelgefühl? Was bedeutet der Krampf in meinen Bein – eine Thrombose?! Sie wollen Anzeichen eines Angstanfalls bzw. eine Krankheit frühzeitig entdecken und gegensteuern. In Wahrheit schaffen sie sich damit nur noch mehr Angst-Gründe, überinterpretieren jede minimale Körpererscheinungen, die jeder andere links liegen lässt.

Aus Angst vor Herzrasen und Atemnot scheuen viele Agoraphobiker körperliche Anstrengung (z.b. Treppensteigen) und Sport. Nur keinen Angstanfall riskieren. Doch der Schongang birgt die Gefahr einer ungesunden Lebensführung mit tatsächlicher körperlicher Schwächung und Anfälligkeit. Sie haben oft auch Angst, Medikamente einzunehmen: sie fürchten, dass die schlimmstmöglichen Nebenwirkungen eintreten.

Agoraphobiker sind ausgelaugt und energielos, können sich nicht aufraffen, irgendetwas zu tun. Sie machen ständig Pläne und werfen sie wieder über den Haufen, sagen Verabredungen zu und halten sie dann doch nicht ein.

Agoraphobiker müssen also einen erheblichen Teil ihrer Zeit und Energie dafür aufwenden, ihr Hilfssystem aufrechtzuerhalten, mit Tricks und Techniken den Alltag durchzustehen. Doch die Angst vor der Angst begleitet sie trotz Vermeidung immer: deshalb können sie sich nicht einmal in anfallsfreien Zeiten entspannen. Sie trauen dem Frieden nicht, vermuten den lauernden Feind Angst überall, sind ständig ängstlich auf der Hut oder bereiten sich innerlich schon auf die nächste „Hürde“ vor. Weil die Angstzustände nicht mehr zu bewältigen sind, verlieren sie ihr Selbstvertrauen, fühlen sich abartig, verrückt, schwach und hilflos. Ein Großteil der Agoraphobiker rutscht öfters oder ständig in depressive Verstimmungen ab.
Viele Agoraphobiker verstecken aus Scham ihr Problem vor Freunden, Arbeitskollegen etc. Sie haben daher wenig Möglichkeiten, sich auszusprechen, fallen zu lassen. Das Urteil „Der spinnt ja“ würde das Elend und die empfundene Wertlosigkeit nur noch verschlimmern.

Zwei Studien aus England und Australien erbrachten Interessantes: Agoraphobiker bevorzugen bestimmte Tages- und Jahreszeiten. Viele fühlen sich gegen Abend, in der Dämmerung und nachts besser. Auch schlechtes, düsteres Wetter erleichtert den Betroffenen den Aufenthalt außerhalb der Wohnung. Helles Sonnen- oder Neonlicht und flackernde Reklamen dagegen empfinden die meisten Agoraphobiker als unangenehm; sie tragen daher häufig Sonnenbrillen oder dunkle Gläser.

Da verwundert es nicht, dass Panikattacken und die daraus entstehende Agoraphobie vorzugsweise im Sommer erstmals auftreten, wie eine Studie belegt. Ebenso fand man heraus, dass sich der Zustand vieler Patienten verschlimmert, wenn es draußen heiß ist. Das läßt den Schluss zu, dass Agoraphobiker sensibler auf die erhöhte körperliche Belastung durch Hitze und Schwüle reagieren.

Die Einschränkungen und die seelische Belastung haben für viele Betroffene erhebliche Folgen:

  • Verlust des Selbstwertgefühls
  • Probleme mit dem Partner, der Familie
  • zunehmende soziale Isolation
  • Arbeitsplatzverlust
  • Alkohol-, Drogen-, Medikamentenabhängigkeit
  • Depressionen

Die Selbstmordrate ist bei Angstpatienten 18 mal höher als in der Normalbevölkerung.

Auslöser ist nicht immer gleich Ursache

Die genaue Entstehung von Agoraphobie ist wie bei allen phobischen Störungen immer noch Gegenstand intensiver Wissenschaftsforschung – mit anderen Worten: noch unklar. Manche Agoraphobien entwickeln sich schleichend, ohne dass irgendeine offensichtliche Veränderung in den Lebensumständen der Betroffenen zu finden ist. Aber in vielen Fällen ist der Auslöser ein unvorhergesehener, traumatisierender Angstanfall. Dieser tritt wiederum häufig nach einem belastenden Lebensereignis auf (Tod eines nahen Menschen, Scheidung, Gewalterfahrungen, Unfall, Geburt eines Kindes etc.), oder in Zeiten von Dauerstress und Überforderung, Arbeitslosigkeit u.ä. Auch ein eigenes Erlebnis von Kontrollverlust (z.B. ein Kreislaufkollaps mit Unwohlsein) kann der Beginn einer Agoraphobie sein. Zuweilen ist der Auslöser identisch mit der Ursache der Agoraphobie bzw. Panik. In anderen Fällen aktiviert ein bestimmter Stressor aber nur einen bereits lange schwelenden seelischen Konflikt, der sich dann in Angstanfällen entlädt. Aber warum der eine Mensch unter gleichen Bedingungen eine Panik oder Agoraphobie entwickelt und der andere nicht, wissen die Fachleute nicht genau. Es gibt zwei große Gruppen von Erklärungsversuchen: psychologische Theorien und biologische Theorien.

Die Verfechter seelischer Angstursachen teilen sich in Vertreter psychoanalytischer oder psychodynamischer Modelle einerseits und lern- bzw. verhaltenstheoretischer Modelle andererseits. Erstere sehen im Vordergrund die Verdrängung schmerzhafter oder unangenehmer Gedanken und Erfahrungen in der Kindheit (z.B. Aggressionen, Sexualität). Aber auch falsche Erziehung kann schon im Kindesalter eine ängstliche Grundhaltung prägen: mangelnde Sicherheit, Wärme, Liebe, mangelnde Freiheit und Selbstbestimmung, Überfürsorglichkeit und Hemmung der Persönlichkeit des Kindes.
Die Verhaltenstheoretiker glauben, dass übersteigerte Ängste erlernt sind. Wiederholte Erfahrungen mit bestimmten Situationen „konditionieren“ die Angst. Der betroffene Mensch meidet künftig Situationen, von denen er aufgrund seiner Erfahrung annimmt, dass sie ihm schaden könnten. Dieser Prozess ist nicht mehr vom Willen gesteuert, sondern läuft automatisch ab. Das Angsterlernen kann durch eine „Vorbildfunktion“ der Eltern gefördert werden, die vielleicht schon Angst und Vermeidung vorlebten bzw. eine Überängstlichkeit in Bezug auf Krankheiten vermittelten.

Die Lern- und Verhaltenstheorie wurde in den letzten Jahren durch die kognitive Komponente (wahrnehmen, analysieren, bewerten) erweitert. Danach lernt der Mensch nicht nur durch Erfahrung, sondern auch durch Denken. Er überträgt sein erlerntes Verhalten gedanklich auf andere, noch unbekannte Situationen. Im Grunde eine gute Fähigkeit: So hat er die Sicherheit, auch Unbekanntes in den Griff zu bekommen. Hat er aber einmal Hilflosigkeit und Kontrollverlust erlebt, wertet er dies als Unfähigkeit, zukünftige Situationen zu bewältigen, was bedrohlich und angstauslösend ist. Panikpatienten und Agoraphobiker katastrophisieren also künftige Situationen und Aufgaben im Kopf. Margraf: „Es sind nicht die Symptome selber, die eine Attacke auslösen, sondern erst die Bewertung dieser Symptome.“ Dieses dramatisierende Denken bezieht sich nicht nur auf persönliche Eigenschaften (Versagen, Unfähigkeit, mangelnde Belastbarkeit), sondern auch auf Schicksal und Gesundheit: Viele Angstpatienten sind extrem besorgt über mögliche Krankheiten, glauben, dass sie häufiger von Unglück heimgesucht werden als andere.

Interessant an dem lern- und verhaltenstheoretischen Modell

Es geht davon aus, dass gelerntes Verhalten gezielt wieder verlernt werden kann; bestimmte Konditionierungen (auch kognitive) können durch neue ersetzt werden (siehe Verhaltenstherapie weiter unten).

Die Vertreter organischer Erklärungen für übersteigerte Angst gehen von Störungen im Zentralen Nervensystem aus. Sie suchen sozusagen den Schaltfehler im Gehirn. Verschiedene Theorien werden zur Zeit erforscht:

Fehlgesteuerte Hormone

Das „Alarm“-Hormon Adrenalin, das Herzschlag, Atemfrequenz und Blutdruck erhöht und den Menschen extrem rektionsfähig macht, wird bei Angstpatienten möglicherweise fehlerhaft ausgeschüttet, nämlich auch in Situationen, die gar nicht gefährlich sind. Verantwortlich dafür ist im Gehirn der sogenannte Hypothalamus, der einer Fehlprogrammierung unterliegen könnte, oder sich zumindest ab und zu „irrt“.

Überempfindliche Rezeptoren

Angstpatienten könnten überempfindlich auf Adrenalin, und zwar schon auf kleinste Mengen reagieren. Man vermutet, dass sich Adrenalin an den Nervenzellen an sogenannte Beta-Rezeptoren anlegt, die dann alle Informationen weiterleiten. Sind diese übersensibel oder überaktiv, lösen sie die typischen Alarmreaktionen (Herzrasen, Schweiß, Schwindel etc.) auch schon bei Hormonmengen aus, die anderen Menschen überhaupt nichts ausmachen.

Auch der Locus Caeruleus, ein kleiner Kern im Hirnstamm, könnte durch Fehlfunktionen falsche Angstanfälle hervorrufen. Dieser Bereich ist mit einem Großteil der Nervenzellen des Zentralen Nervensystems verbunden. Außerdem sendet er mittels eines Hormons Informationen an den Hypothalamus sowie das Zentrum der Emotionen (limbische Strukturen) und an die Großhirnrinde (die für bewusste Prozesse zuständig ist).

Möglicherweise haben Angstpatienten eine angeborene Bereitschaft zu erhöhter vegetativer Erregbarkeit, insbesondere eine leichte Veränderlichkeit der Blutgefäße und des Blutdrucks. Diskutiert wird auch, ob die Gefäße im Gleichgewichtsorgan empfindlicher sind als bei anderen Menschen. Das äußert sich in Schwindel und Gleichgewichtsstörungen, besonders in bewegten Räumen (Zug, Auto, Schiff auf dem Meer).

Natürlich können auch genetische Seelen-Komponenten (angeborene psychische Sensibilität und Erregbarkeit) eine Ursache sein. Ein amerikanischer Forscher vermutet, dass Furchtsamkeit bei Menschen zu vierzig Prozent genetisch bedingt ist.

Weitere Ursachen & Einflüsse

Doch die Angstforschung diskutiert noch andere Ursachen und Einflüsse, die vor allem in der Entwicklung unserer modernen Gesellschaft liegen:

Angst vor dem Tod. Sterben und Tod sind tabuisiert, wir erleben das Sterben unserer Angehörigen nicht mehr nahe und natürlich, Religiosität tröstet immer weniger Menschen in der Angst vor dem Sterben.

Andererseits sehen wir immer mehr Tod und Gewalt in den Medien. Naturkatastrophen, neue Seuchen, unüberschaubare Techniken, Verkehr, Gewaltverbrechen rücken uns immer näher, machen unsere Welt immer bedrohlicher. Wir verlieren durch die Bilder und Nachrichten den Abstand zu Schrecken und Elend. Zunehmende Besorgnis und leichte Überregbarkeit sind die Folgen.

Unsere Fähigkeit, Krankheiten, körperliche Beschwerden und Schmerzen zu ertragen, ist zurückgegangen. Dagegen ist unser Anspruch gestiegen, gesund und leistungsfähig zu sein.
Unsere Lebensführung wird immer ungesunder. Alkohol- und Drogenmissbrauch erhöhen die Panikneigung ebenso wie hoher Nikotin- und Koffeingenuss.

Die Realität liegt vermutlich wieder mal in der goldenen Mitte all dieser Möglichkeiten: bei jedem Betroffenen spielen seelische und körperliche Prozesse sowie seine spezielle Lebensgeschichte und sein Lebensumfeld auf komplizierte Weise zusammen.

Späte Entdeckung und falsche Behandlung

Entscheidend ist für den Agoraphobiker, dass er möglichst früh den Weg zu der richtigen Therapie findet. Leider dauert es im Schnitt immer noch 7 bis 10 Jahre, bis die Betroffenen in geeignete Behandlung kommen. Die meisten verstecken ihre Probleme lange Zeit oder glauben, ihnen könne sowieso keiner helfen. Die Ärzte erkennen die Angststörung oft nicht und behandeln entsprechend falsch: mit Medikamenten. Doch die bringen zwar Entlastung, packen das Problem aber nicht bei der Wurzel an. Setzt man sie ab, geht´s wieder los. So quälen sich Agoraphobiker ohne genaues Wissen über ihre Störung, ohne professionelle Hilfe, ohne Möglichkeiten, sich selbst aus dem Teufelskreis von Angst und Vermeidung zu befreien – sie sind ohne Hoffnung.

Hilfe gegen den Horror

Aber es gibt Hilfe. Eine Verhaltenstherapie (Konfrontation, Exposition) ist nachweislich die erfolgreichste Behandlung von Agoraphobie. Diese gezielte und in vielen Einrichtungen bzw. bei einigen ambulanten Therapeuten bereits ausgereifte Methode ist kurz und effektiv. Die Erfolgsquote liegt bei 80 Prozent, und das auch noch nach fünf Jahren. Das heißt leider nicht, dass sie einfach ist. Die Therapie verlangt viel vom Patienten.

Therapien

Zunächst wird er aufgeklärt über das natürliche Wesen der Angst, dann über körperliche und gedankliche Abläufe bei übertriebener Angst, der Teufelskreis der Angst mit seiner Aufschaukelung wird klargemacht. Danach kommen schon viele Patienten besser zurecht. Andere müssen ein Angsttagebuch führen. Therapeut und Agoraphobiker erarbeiten beim „geleiteten Entdecken“ Bilder, Gedanken und Fehlinterpretationen, die der Betroffene z.B. bei Herzrasen hat. Dann bekommt der Patient nützliches Werkzeug an die Hand: Methoden, den Teufelskreis im Angstanfall zu durchbrechen. Das reicht von gedanklichen Hilfsmitteln bis zu Entspannungsübungen, die die Körperreaktionen dämpfen.

Letzte Stufe ist schließlich die Konfrontation mit den angstauslösenden Situationen. In den Übungen erfährt der Patient, dass die Angst zwar aufsteigt, aber nicht unendlich größer wird, sondern auch wieder abklingt, wenn er nur lange genug in der Situation bleibt. Dabei, so erläutert Margraf, sei es besser, massiv in die Übungen hineinzugehen als schrittweise. „Zwei Stunden am Stück sind besser als viermal eine halbe Stunde.“

Die Botschaft der Therapie ist klar und für jeden erlebbar: Man stirbt nicht an Angst und sie geht von alleine weg.

Ziel der Behandlung ist nicht, keine Angst mehr zu haben, sondern keine unangemessene Angst mehr zu bekommen. Nach durchschnittlich nur 15 Sitzungen werden die Patienten entlassen – befreit aus dem hilflos machenden Würgegriff der Agoraphobie.

Leider übernehmen nicht alle Kassen die Kosten oder erstatten sie nur teilweise. Dabei rechnen Margraf und Kollegen ihnen immer wieder vor, welche Beträge sie mit solchen Behandlungen sparen können!

Freilich konzentrieren sich die Konfrontationstherapien auf das Problem, das Dreh- und Angelpunkt des Agoraphobikers geworden ist: die Angst. Um grundlegendere seelische Konflikte zu bearbeiten, die möglicherweise der Nährboden für die Angststörung sind, müssen manche Betroffene eine weiterführende ambulante Therapie machen, z.B. eine Gesprächstherapie oder eine Psychoanalyse.

Selbsthilfe & Ratgeber

Neben den professionellen Helfern (Therapeuten, Kliniken, Angst-Ambulanzen) vermitteln aber auch gute Selbsthilfe-Ratgeber durchaus Methoden und Erkenntnisse, einen Weg aus dem Dilemma zu finden. Und nicht zuletzt sind Angst-Selbsthilfegruppen eine nützliche Anlaufstelle. In Deutschland gibt es etwa 300 solcher Gruppen und Initiativen von Betroffenen. Sie vermitteln nicht nur Informationen über die Angststörungen und kennen geeignete Therapeuten. Vor allem treffen Agoraphobiker dort Leidensgenossen und merken, dass sie nicht alleine sind und nicht verrückt. Erfahrungsaustausch, Verständnis, Trost, Ermutigung und sozialer Kontakt in diesen Gruppen machen viele Betroffene erst fähig, sich auf eine Therapie einzulassen. Sie bieten aber auch nach einer Therapie Stabilisierung und beugen Rückfällen vor.

Jeder Betroffene kann seine Agoraphobie überwinden, wenn er es anpackt. Nur Mut!