Zwangsstörungen als Angststörungen – Eine Kontroverse
Zwischen den beiden maßgeblichen Diagnoseschemata bestehen wesentliche Unterschiede in der Zuordnung der Zwangsstörungen:
Das internationale ICD-10 ordnet die Zwangsstörung den neurotischen Störungen zu (obwohl dieser Terminus möglichst zu vermeiden versucht wird).
Das amerikanische DSM-IV zählt die Zwangsstörung zu den Angststörungen, was der einflussreiche englische Psychiater Marks bereits 1969 tat.
Die Darstellung der Angststörungen in diesem Buch folgt der amerikanischen Diagnostik, die in zunehmendem Ausmaß auch international verwendet wird. Bei einer ausschließlichen Orientierung am ICD-10 könnte auf die Beschreibung der Zwangsstörungen in diesem Artikel verzichtet werden. Es lassen sich gewichtige Argumente gegen die Zuordnung der Zwangsstörungen zu den Angststörungen anführen:
- Menschen mit Zwangsstörungen weisen eine andere Form von Ängsten auf als typische Angstpatienten. Im Mittelpunkt stehen allgemeine Unruhe, Anspannung, Ärger, Gereiztheit und diffuses Unbehagen. Zwangsrituale sind ein Mittel zur Bewältigung von Unruhe und Unbehagen. Das wesentlichste Merkmal an Zwangsstörungen ist ein bestimmtes Zwangsritual. Erst dessen Nicht-Ausführung im Zuge von Unterdrückungsversuchen der Zwänge bewirkt unerträgliche Angstzustände. Ängste werden somit erst dann massiv erlebt, wenn die anspannungsreduzierenden Zwänge nicht mehr im nötigen Ausmaß ausgeführt werden.
- Ängste bei Zwängen werden nicht einfach nur durch bestimmte Reize und Situationen ausgelöst, sondern vielmehr erst durch das Gefühl einer damit verbundenen Verantwortung, der man nicht gewachsen sein könnte, sodass andere Personen zu Schaden kommen könnten. Man sorgt sich um die Verseuchung der Hände durch Bazillen vor allem deshalb, weil man dadurch andere anstecken könnte.
- Während Zwangshandlungen eine kurzfristig wirksame Verringerung von Angst und Unruhe bewirken, ist bei Zwangsgedanken geradezu das Gegenteil der Fall: es kommt zu einem Anstieg von Erregung und Unruhe.
- Tranquilizer bewirken bei Zwangspatienten keine Besserung, was darauf hinweist, dass angstlösende Medikamente nicht den zentralen Wirkmechanismus von Angstverläufen bei Zwängen erfassen.
- Zwangspatienten sprechen im Vergleich zu Angstpatienten kaum auf Placebos an.
- Zwangspatienten erleben im Gegensatz zu Angstpatienten kaum eine vollständige Heilung.
- Zwangspatienten weisen eine größere interaktionelle Verletzbarkeit auf als Angstpatienten.
- Zumindest bei einem Teil der Zwangsstörungen sind hirnorganische Komponenten anzunehmen (gestörte Interaktion zwischen Basalganglien, limbischem System und Frontalhirn).
- Zwangsstörungen weisen Übergänge zu unterschiedlichen psychischen Störungen auf (z.B. Essstörung, Hypochondrie, Dysmorphophobie, Impulskontrollstörung, Trichotillomanie, d.h. zwanghaftes Haareausreißen).
Abgrenzung von Zwangsstörungen gegenüber anderen Störungen
Es bestehen deutliche Unterschiede zwischen Phobien und Zwangsstörungen, wie bereits erwähnt wurde und anhand einer Tabelle zusätzlich veranschaulicht werden kann. Der Aspekt der persönlichen Verantwortung stellt ein zentrales Unterscheidungsmerkmal dar. Phobien bestehen in der Erwartung einer gefürchteten Katastrophe, auf die man keinen Einfluss zu haben glaubt, Zwangsstörungen sind dagegen charakterisiert durch ein großes Gefühl der Verantwortung für die erwartete Katastrophe, verbunden mit Schuldgefühlen, sollte diese nicht abgewendet werden können.
Unterscheidung von Phobien und Zwängen
Phobien | Zwänge |
Dauernde Sorgen um ein zentrales Thema | Stereotype, wiederholte Gedanken und Handlungen |
Reize: spezielle Situationen (Busse, Hunde usw.) verursachen Angst und Panik | Reize: Schmutz, Berührung, Verletzung usw. als mögliche Quelle der Beunruhigung |
Emotionen: Angst, Panikgefühle | Emotionen: Unbehagen, Unruhe, Ekel, Ärger |
Angstsituation weitgehend benennbar und konkret | Angst und Unruhe, zum Teil reizunspezifisch, Reize allgemeiner Art werden vermieden (z.B. Staub), zukunftsbezogen |
Angst vor Kontakt mit einer speziellen auslösenden Situation | Angst vor möglichen, in der Zukunft liegenden Konsequenzen, wenn in Kontakt mit verschiedenen Reizen |
Einigermaßen klare Vorstellungen über die Notwendigkeit der Vermeidung (was könnte passieren, z.B. sterben bei Ohnmachtsanfall usw.) | Patienten mit Zwängen weisen zumeist sehr unkonkrete, aber elaborierte Ideen auf, was als Folge einer Schmutzung passieren könnte (z.B. Ideen über die Verteilung von Bakterien; Vorstellung über Schuld usw.) |
Zwangsgedanken bzw. zwanghaftes Grübeln haben zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit einer ausgeprägten generalisierten Angststörung, lassen sich in der Regel jedoch eher leicht davon unterscheiden:
- Bei einer generalisierten Angststörung steht eine ständige übertriebene Besorgtheit im Vordergrund, die mit realen Lebensumständen zu tun hat und eher ich-nahe (ich-synton) erlebt wird.
- Zwangsgedanken sind charakterisiert durch die Aufdringlichkeit der Gedanken, die damit verbundenen Gedanken von Verantwortung und Schuld sowie dem irrealen Charakter der Zwangsgedanken, die eher als ich-fremd (ich-dyston) erlebt werden.
Angststörungen lassen sich gegenüber einer Psychose durch zwei Faktoren abgrenzen:
- Zwangspatienten wissen, dass ihre Gedanken letztlich unrichtig sind bzw. haben entsprechende Zweifel, bei einer Paranoia oder paranoiden Psychose dagegen besteht eine unkorrigierbare subjektive Gewissheit über den Inhalt der Gedanken.
- Zwangspatienten wissen auch (im Gegensatz zu psychotischen Patienten), dass das Bedrängt-Werden aus der eigenen Person und nicht aus der Umwelt stammt.
Die Abgrenzung gegenüber Depressionen kann (zumindest im Querschnitt) schwierig sein. Zwangsstörung und Depression hängen oft eng zusammen:
- Zwangsgedanken (Grübelzwänge) treten oft im Rahmen einer depressiven Episode auf. Eine Zwangsstörung sollte nur dann diagnostiziert werden, wenn der Grübelzwang nicht im Zusammenhang mit einer Depression auftritt und anhält.
- Depressive Reaktionen treten oft auch als Folge nicht bewältigbar erscheinender Zwänge auf, gleichsam als Resignationserscheinung nach langen Kämpfen gegen die Zwänge.
- Bestimmte Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) sind auch bei Zwangsstörungen wirksam, was biologische Zusammenhänge nahe legt.
Oft werden auch übermäßiges Essen, Spielen, Sexualverhalten u.a. als zwanghaft bezeichnet. Gegenüber Drang- und Suchtverhaltensweisen gibt es zwei Abgrenzungskriterien:
- Bei Suchtverhaltensweisen haben die Betroffenen zumindest zum Zeitpunkt des Verhaltens einen gewissen Genuss, auch wenn sie es später bereuen, dem Drang nachgegeben zu haben. Zwangshandlungen bereiten dagegen niemals angenehme Gefühle, sondern führen nur zu einem Nachlassen unangenehmer Gefühle.
- Drang- und Impulsstörungen stellen eine Erleichterung bei allgemeiner Anspannung dar, Zwänge beinhalten eine spezifische Angst, die durch spezifische Rituale bekämpft wird.
Zwangsstörungen lassen sich auch gegenüber einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung eindeutig abgrenzen. Eine zwanghafte Persönlichkeit ist charakterisiert durch ein ausgeprägtes Streben nach Ordentlichkeit, Perfektionismus und Kontrolle, während Zwangsgedanken und Zwangshandlungen fehlen.
Das ICD-10 beschreibt eine „anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung“, die nur bei 10% der Zwangspatienten vorliegt (mindestens drei Merkmale müssen vorhanden sein):
- Übermäßiger Zweifel und Vorsicht.
- Ständige Beschäftigung mit Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation oder Plänen.
- Perfektionismus, der die Fertigstellung von Aufgaben behindert.
- Übermäßige Gewissenhaftigkeit, Skrupelhaftigkeit und unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit unter Vernachlässigung von Vergnügen und zwischenmenschlichen Beziehungen.
- Übermäßige Pedanterie und Befolgung von Konventionen.
- Rigidität und Eigensinn.
- Unbegründetes Bestehen auf der Unterordnung anderer unter eigene Gewohnheiten oder unbegründetes Zögern, Aufgaben zu delegieren.
- Andrängen beharrlicher und unerwünschter Gedanken oder Impulse.